Städte wurden geplant von und für großteils privilegierte, erwerbstätige Männer mit Autos und ohne Betreuungsplichten. Wien macht’s seit den Neunzigern anders und ist heute international als Vorzeigestadt im Gender Mainstreaming bekannt. Eine Fahrradfahrt vom Reumannplatz über das Nordbahnviertel zur alltagstauglichen „Stadt für alle“.
TEXT: SIRI MALMBORG
FOTOS: SIRI MALMBORG
So wie die österreichische Gesellschaft wurden auch die Städte nach den Vorstellungen von überwiegend autofahrenden, berufstätigen Männern ohne Betreuungspflichten gestaltet. Die Ergebnisse: räumliche Trennung von Arbeitsplatz, Freizeitangebot, Arztpraxen, Einkaufsmöglichkeiten und Wohnort. Weiters: neunzig Zentimeter schmale Gehsteige mit wenig Platz für Kinderwägen oder Rollstühle; Treppen ohne Rampen; ein schlechtes Öffi-, Fuß- und Radwegnetz; schlecht ausgeleuchtete Unterführungen.
Fährt man mit dem Rad einmal quer durch Wien, erlebt man eine anders gestaltete Stadt: Hier versucht man seit den Neunzigern, die Stadt für alle lebenswerter zu gestalten. Hierfür haben Stadtplaner:innen verschiedene Bezeichnungen: „Gender Mainstreaming“, „gendergerechte Stadtplanung“, „alltags- und zielgruppenorientierte Stadtplanung“. Egal, wie man es nennt: Diese Art der Planung möchte die Bedürfnisse derer abdecken, die bisher weniger berücksichtigt wurden. Und zwar auf mehreren Ebenen: im Wohnbau, in der Freiraumgestaltung, in öffentlichen Bauten, im allgemeinen Städtebau, in der Verkehrsplanung und im Hinblick auf Sicherheit im öffentlichen Raum. Denn: Die Stadt schafft die Rahmenbedingungen für unseren Alltag und kann ihn somit entweder erschweren oder eben erleichtern.
Vom Reumannplatz zum Reumädchenplatz
Beginnen wir unsere Radtour an der ersten Wiener „Mädchenbühne“ am Reumannplatz in Favoriten, dem zehnten Wiener Gemeindebezirk. Dort steht Katja Arzberger. Sie arbeitet bei der Agenda Favoriten, einem Büro für Bürger:innenbeteiligung an nachhaltiger Bezirksentwicklung. Als der Reumannplatz im Zuge der Verlängerung der U-Bahn-Linie U1 umgestaltet wurde, sorgte das Landschaftsplanungsbüro tilia und die Agenda Favoriten gemeinsam mit der Wiener Stadtplanung dafür, dass es eine alltags- und zielgruppenorientierte Planung gab.
Auf der Mädchenbühne finden manchmal auch Workshops statt © Siri Malmborg
Dabei wurde besonderer Fokus auf die Zielgruppe Mädchen gelegt. „Mädels ziehen sich heute etwa ab dem zehnten Lebensjahr zunehmend aus dem öffentlichen Raum zurück. Das liegt an vielen Faktoren – auch an sozioökonomischen Faktoren, die man mit Parkgestaltung nicht ändern kann“, sagt Katja Arzberger, die den Reumannplatz „Reumädchenplatz“ nennt. „Aber man kann die Rahmenbedingungen schaffen, sodass sich Eltern sicher fühlen, ihre Tochter hinaus in den Park zu schicken.“
Bei Straßenfesten mit Kaffee und Kuchen wurden Passant:innen gefragt, was sie sich für den Reumannplatz vorstellen und was sie dort tun wollen. Es gab Begehungen, bei denen Mädchen aus dem Bezirk auf fehlende Beleuchtung, zu hohe Büsche und dunkle Ecken hinwiesen. Mit Schüler:innen aus elf Favoritener Schulen erarbeitete man, was vorher am Platz nicht funktionierte und was sie sich für die Zukunft wünschen. Der von manchen Kindern geäußerte Wunsch nach einem Zoo oder Kino am Platz war eher schwer realisierbar, viele der restlichen Anmerkungen wurden aber umgesetzt: Hecken wurden zurückgeschnitten, schlechte Leuchten wurden mit LEDs ausgewechselt, zusätzliche Lichtmasten wurden aufgestellt. Am Spielplatz befinden sich jetzt mehr Sitzgelegenheiten, im Boden eingelassene Trampoline, ein Wasserspiel und ein Trinkbrunnen. Die Bauelemente am gesamten Reumannplatz sind in den Regenbogenfarben bemalt und eine Bühne wurde auf den Wunsch nach mehr Theater, Tanz und Musik hin errichtet.
Der Reumannplatz soll nach der Umgestaltung mehr Raum für Mädchen in Favoriten bieten © Siri Malmborg
Katja Arzberger ist mittlerweile in ein Gespräch mit einem Passanten verwickelt. Später sagt sie: „Die Leute vor Ort sind die besten Experten. Sie wissen was wo fehlt, was man braucht, und was nicht. Wenn nicht mit ihnen gesprochen wird, stellt jemand von der Stadt einen Mistkübel ewig weit weg von den Sitzgelegenheiten hin oder baut eine Spielgelegenheit auf, die kein Kind will.“
Den Alltag meistern
Ob Vorgänge wie jener am Reumannplatz als alltagsorientierte, als zielgruppenorientierte, oder als gendergerechte Stadtplanung bezeichnet werden sollen, ist keine eindeutige Angelegenheit. Die Stadt Wien fasst alles unter dem Begriff „Gender Mainstreaming“ zusammen. Eva Kail, Stadtplanerin und Vorreiterin in diesem Gebiet sagt: „Das ist lange unter frauengerechter Planung gesegelt, ist aber in Wirklichkeit mehr als das. Mit ‚Gender‘ ist nicht die Unterscheidung nach dem biologischen Geschlecht gemeint, sondern nach sozialen Rollen, die auch in unserer Gesellschaft unterschiedlich ausgeprägt sind.“ Es geht darum, die Bedürfnisse und Lebensrealitäten der Bevölkerungsgruppen, auf die bisher weniger Rücksicht genommen wurde, in der Stadtplanung bewusst mitzudenken.
„Ich verwende gerne ‚alltagsgerechte & zielgruppenorientierte Planung‘, weil in dem Wort ‚Alltag‘ schon viel mehr Vielfalt steckt. Das inkludiert zum Beispiel auch unbezahlte Arbeit.“
Eva Kail wünscht sich manchmal, sie hätten einen anderen Begriff als „Gender“ gewählt, als sie damals in den Neunzigern begannen, Gender Mainstreaming zu etablieren. Er sei für viele nicht selbsterklärend und sie brauche mindestens fünf Sätze, um zu erklären, dass es dabei um soziale Rollen und Fairness geht. „Man kann es auch ‚sozial-nachhaltige Planung‘ nennen. In der Stadt Wien haben wir das Branding ‚Stadt fair teilen‘ - das finde ich auch sehr treffend“, sagt Eva Kail. „Ich verwende gerne ‚alltagsgerechte & zielgruppenorientierte Planung‘, weil in dem Wort ‚Alltag‘ schon viel mehr Vielfalt steckt. Das inkludiert zum Beispiel auch unbezahlte Arbeit.“
Eva Kail war schon in den Neunzigern im Gender Mainstreaming tätig © Jana Madzigon
Arbeiten, Anziehen, Abholen
Auf das Thema dieser unbezahlten Arbeit stößt man, sobald man über soziale Rollen spricht. Denn: Care-Arbeit wird in Österreich immer noch mehrheitlich von Frauen verrichtet. Eva Kail sagt dazu: „Care-Arbeit ist lange in der Planung einfach nicht als Thema gesehen worden. Es wurde an Freizeit und Erwerbsarbeit gedacht – aber wenn ich für Kinder oder Ältere sorge und Besorgungen erledige, habe ich noch ganz andere Ansprüche an meinen Stadtteil.“ Zum Beispiel, dass Arbeitsplatz, Wohnort, Betreuungspflichten und sonstige Erledigungen möglichst nah beieinander liegen und gut verbunden sind – das nennen Stadtplaner:innen die „Stadt der kurzen Wege“.
Die noch immer ungleiche Verteilung der Care-Arbeit zwischen den Geschlechtern ist ein Problem, das durch Stadtplanung nicht behoben werden kann. Aber: Die Betreuungsarbeit zu sehen und planerisch darauf zu reagieren – das ist möglich. Architektin und Stadtforscherin Amila Širbegović sagt dazu: „Man kann Care-Arbeit durch gute Gestaltung verträglicher machen, aber letztendlich haben wir ein gesellschaftliches Problem damit, dass Care-Arbeit kaum anerkannt und nicht bezahlt wird.“
Amila Širbegović arbeitet unter anderem bei der Internationalen Bauausstellung (IBA) © IBA_Wien, J.Fetz
Es würde manchmal das Argument gebracht, alltags- und zielgruppenorientierte Stadtplanung würde Rollenbilder verfestigen, was nicht zutreffe, sagt Eva Kail. „Care-Arbeit ist einfach Arbeit, die gesehen und erledigt werden muss, und dafür hat die Planung Vorsorge zu treffen. Und hoffentlich kommt diese gute Planung dann irgendwann zu 50 Prozent Männern zugute.“ Von diesen planerischen Aufbesserungen profitieren also alle. Nicht nur den Alleinerziehenden, sondern auch der standardisierten vier-köpfigen Familie kommt es zugute, dass das Öffinetz gut ausgebaut ist, es viele Angebote in der Wohnumgebung gibt und sie somit weniger flexibel sein müssen.
Von guten Angeboten im öffentlichen Raum profitieren alle © Siri Malmborg
„Natürlich gibt es nicht nur Frauen, die Kinderwägen schieben. Es gibt zum Beispiel auch Männer, es gibt Menschen in Rollstühlen, es gibt ältere Menschen, die zur Sicherheit mehr Platz brauchen. Frauengerechte Stadtplanung ist Stadtplanung für alle. Sie kommt allen zugute, wenn sie gut gemacht ist“, sagt Katja Arzberger am Reumannplatz. Sie verabschiedet sich und trägt den Roller ihrer Tochter in die U-Bahn, um sie abzuholen.
Umweg oder Unbehagen
Mit dem Fahrrad geht es jetzt weiter in Richtung Norden. Durch Wieden, dem vierten Wiener Gemeindebezirk, hinauf zum ersten Bezirk und dort am Ring entlang hinunter an den Donaukanal. Hier gibt es einen kaum ausgeleuchteten abgesenkten Abschnitt zwischen der Rossauer Brücke und der Friedensbrücke. Auf der einen Seite der Fluss, auf der anderen Bäume, Bolzkäfige und die U-Bahn. Flussabwärts gibt es Tunnels und Unterführungen. Viele nehmen um diese Abschnitte einen Umweg oder durchqueren sie mit Unbehagen. Orte wie diese nennt man Angsträume.
Unterführungen – gut für den Fluss des Autoverkehrs, unangenehm für Fußgänger:innen © Siri Malmborg
Themen wie Beleuchtung, Einsehbarkeit und Belebung des öffentlichen und halböffentlichen Raums gehören ebenfalls zum Gender Mainstreaming. Denn: Den Alltag zu erleichtern heißt auch, Sicherheit zu gewähren. Wie das Ungleichgewicht in der Verteilung der Care-Arbeit, lässt sich auch das Problem mit Männergewalt nicht durch Stadtplanung lösen. Aber sie kann Angsträume beseitigen und das Gefühl von Unsicherheit mindern. Die Möglichkeiten halten sich hier jedoch in Grenzen, denn die meiste Gewalt passiert im privaten Raum, hinter der verschlossenen Tür der eigenen Wohnung.
Obwohl Stadtplaner:innen der Meinung sind, die gendergerechte Stadt sei eine Stadt für alle, gibt es doch Zielkonflikte, besonders hinsichtlich der Beleuchtung. Beispielsweise bei der Lichtverschmutzung durch Ausleuchtung des öffentlichen und halböffentlichen Raums: durch zu starke Dauerbeleuchtung verschiebt sich der Vegetationsrhythmus von Bäumen; Frostschäden sind die Folge. Tiere werden durch das künstliche Licht irritiert, Lebensräume für Insekten und Vögel verringern sich. Bei der Stadt Wien beschäftigt sich die MA22, die Abteilung für Umweltschutz, mit Lösungen des Problems.
Die Stadt Wien tauscht alte Hängeleuchten gegen effiziente LED-Seilhängeleuchten aus © Siri Malmborg
Wie wohnen wir
Ich überquere am Donaukanal die Aspernbrücke und fahre an der Praterstraße entlang durch den zweiten Bezirk bis ins Nordbahnviertel. Dort befindet sich unter anderem das „Wohnprojekt“, das geplant wurde, um nachhaltiges und gemeinschaftliches Wohnen zu ermöglichen. Hier ist sichtbar: Nicht nur allgemeiner Städtebau, sondern auch gut geplanter Wohnbau kann einen besseren Alltag ermöglichen. Im Nordbahnviertel befindet sich auch der alltags- und zielgruppenorientiert geplante Rudolf-Bednar-Park.
Der Rudolf-Bednar-Park ist das Herz des neuen Stadtteils am ehemaligen Nordbahnhof © Siri Malmborg
Würde ich noch etwa sechs Kilometer weiter in den Norden radeln, käme ich nach Floridsdorf, dem 21. Wiener Gemeindebezirk. Hier legten Architektinnen in den 1990ern durch den Bau der damals revolutionären „Frauen-Werk-Stadt 1“ den Grundstein für alltagsorientierte Wohnbauplanung. Viele Lösungen, die dort erstmals umgesetzt wurden, sind mittlerweile Standard im geförderten Wohnbau Wiens. Weitere Projekte gibt es beispielsweise in der Seestadt Aspern, im Sonnwendviertel oder im Fußgängerbezirk Mariahilf.
Mussten Alleinerziehende ihre Kinder früher oft in der Wohnung einsperren, um in die Waschküche zu gehen, baut man heute im geförderten Wohnbauten oft einen Kinderspielraum mit einer verglasten Wand direkt neben die Waschküche. Dachterrassen, Begegnungs- und Gemeinschaftsräume lassen Nachbarschaft entstehen, Raumhöhenverglasungen und Durchblicke erlauben es, die spielenden Kinder im Innenhof im Blick zu behalten, und ihnen umgekehrt Einblick zu gewähren.
„Man kann vermeiden, dass Menschen, nur weil sie alleinerziehend sind, überhaupt keinen eigenen Raum in der Wohnung haben.“
Manche Wohnbauten werden speziell auf Allein- und Getrennterziehende ausgelegt und bieten dabei zum Beispiel Terrassen auf dem jeweiligen Stockwerk an, damit Kinder wohnungsnah spielen können. Planer:innen wissen mittlerweile auch, dass offene Wohnküchen für Alleinerziehende nicht die beste Lösung sind: Weil sie oft im Wohnzimmer schlafen, um den Kindern mehr eigene Zimmer zu geben, haben sie somit das Gefühl, in der Küche zu schlafen. Die Architektin und Stadtforscherin Amila Širbegović sagt: „Man kann auf einer gleichbleibenden Fläche Schlafnischen planen, Küche und Wohnzimmer trennen und damit vermeiden, dass Menschen, nur weil sie alleinerziehend sind, überhaupt keinen eigenen Raum in der Wohnung haben.“
Briefe bringen nichts
Ein wichtiger Teil des Gender Mainstreamings in der Stadtplanung sind Beteiligungsprozesse und wie sie gestaltet sind. Manche partizipatorischen Formate werden als „Bobo-Bespaßung“ kritisiert, weil sich dort eine sehr homogene, privilegierte Bevölkerungsgruppe engagiert. Je nachdem, wie die Möglichkeiten zur Beteiligung aussehen, zieht man bestimmte Menschen an und schreckt andere ab. Eva Kail sagt: „Wenn ich zur Auflage des neuen Flächenwidmungs- und Bebauungsplans ins Amtshaus einlade und das als A4-Seite an jeden Haushalt verschicke, dann sitzen da manchmal lauter Männer in einem halbleeren Raum, während einer die Planung vorstellt. Da spiegelt sich die Vielfalt der Bedürfnisse in den Wortmeldungen nicht wieder.“
„Wir mussten in der Stadtteilarbeit schon öfter Bezirksvorstehenden erklären, warum Menschen mit Migrationserfahrungen Angst haben, wenn sie einen offiziellen Brief von der Behörde bekommen.“
Niederschwellige, einladende und informelle Möglichkeiten der Beteiligung sind der Schlüssel: Vor Ort sein, mit Passant:innen sprechen, Pläne und Fotos mithaben und fragen, was die Leute an einem bestimmten Ort tun wollen. Auch über Organisationen, die in einer Bevölkerungsgruppe vernetzt sind, kommt man an Menschen und ihre Bedürfnisse. Über Briefe auf A4-Zetteln, wie es Eva Kail beschreibt, eher weniger. Amila Širbegović sagt: „Wir mussten in der Stadtteilarbeit schon öfter Bezirksvorstehenden erklären, warum Menschen mit Migrationserfahrungen Angst haben, wenn sie einen offiziellen Brief von der Behörde bekommen.“ Man kann Unternehmen, die um einen Platz herum liegen, einbeziehen, Auskunftspersonen mit verschiedenen Sprachkenntnissen engagieren, Begehungen und Befragungen machen. Am Reumannplatz sprach man auch mit Obdachlosen am Platz und ging den Platz mit einer blinden Frau ab. „Das braucht natürlich alles Zeit, aber wenn man verschiedene Methoden kombiniert, kommt man zu einem umfassenden Bild“, sagt Eva Kail.
Die Ansprüche an den öffenltichen Raum sind vielfältig © Siri Malmborg
Der Architekt, der Experte
Für ein umfassenderes Bild plädiert auch Amila Širbegović. Nicht nur in Beteiligungsprozessen, sondern auch in Jurys bei Bauträgerwettbewerben und in der Besetzung von Architekturbüros. Sichtbarkeit von Frauen ist hier weiterhin ein großes Thema. Die Architektin und Stadtforscherin sagt: „Wenn bei einem Bauträgerwettbewerb für Wohnbau für Allein- und Getrennterziehende acht Männer und zwei Frauen in der Jury sitzen, stellt sich die Frage: Wer spricht für wen? Wer steht vorne? Wer ist wichtig? Wer wird als der Experte schlechthin gesehen?“
Mittlerweile würden Bauträger schon besser auf Qualität schauen, weil sie wüssten, welche Organisationen welche Gruppen der Bevölkerung unterstützen und wer bereit ist, mit ihnen zusammenzuarbeiten, sagt Amila Širbegović. „Aber: Die Qualität wäre noch besser, wenn man bereits bei der Zusammensetzung der Jury mehr auf Gendergerechtigkeit, auf alle anderen verschiedenen Gruppen der Gesellschaft aber auch auf interkulturelle Kompetenzen schauen würde.“
Hürden für Utopia
Die Expertise, der Wille und die Ideen sind weitgehend da, viele der utopischen Entwürfe scheitern aber an der Finanzierung. Ein Teil des Budgets der Stadt Wien ist dezentral: Jeder Bezirk kriegt sein eigenes Budget und muss davon die Erhaltung von Schulen, Straßen, Beleuchtung und Ampeln finanzieren. Für neue Projekte bleibt oft dementsprechend wenig übrig. Dann kann man versuchen, sich Gelder von der EU oder vom Wiener Zentralbudget zu holen und die Zuständigen zu überzeugen, dass das Projekt wichtig genug ist.
Eine andere Hürde ist laut Amila Širbegović die Direktvergabe von Bauaufträgen für die Planung von öffentlichem Raum: „Ich finde, öffentlicher Raum sollte nur mit komplett offenen Wettbewerben ausgelobt werden. Das ist ein Raum für alle, der mit dem Geld aller gestaltet wird“, sagt sie. „Das würde vielleicht auch die Qualität erhöhen: Weil man wirklich die Besten aussuchen würde und nicht die, mit denen man vor fünf Jahren zusammengearbeitet hat und weiß, es wird eh gut laufen.“
Autos raus
Als eines der großen Kampfthemen der Zukunft sieht Eva Kail den Straßenraum, der ihr zufolge von parkenden Autos weitgehend leergeräumt werden müsste, um dann bepflanzt zu werden. Aufgrund von Einbauten und Gasleitungen dürfen Bäume oft nur dort gepflanzt werden, wo sich die Parkspur befindet. „Autos verhindern, dass in der Bestandsstadt Bäume gepflanzt werden können. Sie sind außerdem zusätzliche Hitzeelemente in Tropennächten. Man muss einfach erkennen, dass in einer Großstadt nicht jeder ein Auto braucht", sagt Eva Kail. „Da das Verständnis von den Autobesitzern zu kriegen – das halte ich für einen großen Knackpunkt. Das hat auch einen Gender-Aspekt, weil die Mehrzahl der weniger berücksichtigten Gruppen kein Auto haben."
Der Platz, den parkende Autos einnehmen, könnte man für vieles gebrauchen © Siri Malmborg
Ansonsten hat Eva Kail das Gefühl, dass sich Gender Mainstreaming in Wien in eine gute Richtung bewegt, was beispielsweise Qualitätsbewusstsein und Nutzer:innenorientierung betrifft. Während die Qualität im frei finanzierten Wohnbau öfter bescheiden sei, befinde sich der geförderte Wiener Wohnbau mittlerweile auf einem sehr guten Level, sagt Eva Kail. In Bauträgerwettbewerben um Wohnbauförderung einreichende Projekte werden im Vorfeld mithilfe einer Kriterienliste auf ihre Alltagsqualitäten geprüft - auch Einzelprojekten werden von einer Jury nach dem Vier-Säulen-Modell beurteilt: Diese sind soziale Nachhaltigkeit, Planungsqualität, Ökologie und Kostenstrukturen. „Das deckt schon sehr viel ab und wir werden international darum beneidet“, sagt Eva Kail.
Als ich in der Dämmerung wieder nachhause fahre, sehe ich die Stadt mit neuen Augen. Ich achte auf abgesenkte Bordsteine, über die man bequem fahren kann, auf Unterführungen mit Eckspiegeln, auf funktionierende Straßenlaternen, und darauf, ob denn ein Kinderwagen im Aufzug Platz hätte (die Antwort: Es gibt keinen Aufzug).
Beratung und Hilfe
Seit 2016 gibt es das Grazer Heimwegtelefon, über das man - nicht nur als Grazer:in! - mit speziell ausgebildeten Ordnungswächter:innen plaudern kann, während man nachhause geht. Diese können im Ernstfall einen Notruf absetzen.
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24-Stunden-Frauennotruf: (Mo-So, 0 bis 24 Uhr, kostenlos): +43 171 719
Frauenhelpline (Mo-So, 0 bis 24 Uhr, kostenlos): +43 800 222 555
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