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Die ungesehene Orientierung

Silje ist 19 Jahre alt und asexuell. Für sie war es ein langer Prozess, diese Orientierung für sich zu entdecken. Im Gegensatz zu Homo-, Bi- und Heterosexualität wird Asexualität nämlich wenig bis gar nicht wahrgenommen in einer Gesellschaft, die das Verspüren von sexueller Anziehung als Norm betrachtet.


TEXT: LOUIS EBNER

AUDIO: URSI ZAISER

Silje möchte keinen Sex haben. Im Laufe ihres Lebens könnte sich dieser Umstand ändern, momentan definiert sie aber ihre Sexualität für sich so. Lange Zeit ist sich Silje nicht sicher gewesen, welche Orientierung am besten auf sie zutrifft, bevor sie erkannt hat, dass sie asexuell ist. Das sei auch daran gelegen, dass sie den Begriff lange nicht kannte. Nachdem sie vor allem über Social Media-Plattformen mehr über Asexualität und asexuelle Menschen erfahren hatte, überlegte sie, ob die Bezeichnung auch auf sie zutreffen könnte. “Es war schwer, herauszufinden, ob ich asexuell bin. Ich musste herausfinden, ob ich etwas nicht fühle, das viele andere Menschen fühlen“, erzählt Silje. Erst, als jemand auf einer Feier versuchte, sie zu küssen, hat Silje schlussendlich erkannt: Sie ist asexuell.


Eine junge Frau von hinten

Silje gibt viel Persönliches über sich preis, ihr Gesicht möchte sie aber nicht zeigen © Pixabay


Menschen, die sich als asexuell identifizieren, verspüren kein oder sehr geringes sexuelles Verlangen anderen Personen gegenüber. Dabei gibt es mehrere Abstufungen und Kategorien, die jeder asexuelle Mensch für sich selbst definiert. Zum Beispiel muss asexuell zu sein nicht automatisch heißen, dass eine Person keinen Sex hat oder keine sexuelle Lust spürt. Andere asexuelle Menschen lehnen den Gedanken an Sex mit einer anderen Person ab, haben aber das Verlangen zu masturbieren. Wie andere sexuelle Orientierungen sollte auch die Asexualität als fluides Spektrum gesehen werden. Das bedeutet, Sexualität ist wandelbar und nicht alle Personen, die sich einer Orientierung zugehörig fühlen, definieren diese gleich.

Ein Blick auf die Spektren


Wie eine asexuelle Person Sex gegenübersteht, wird oft als Kriterium für Unterkategorien herangezogen. So identifizieren sich einige asexuelle Personen mit dem Label sex-positiv asexuell. Sie suchen aktiv nach Sex und genießen es, Sex zu haben. Zuerst mag das nach dem genauen Gegenteil von Asexualität klingen – die ausschlaggebende Komponente für Asexualität ist allerdings die sexuelle Anziehung zu den Sexpartner*innen. Sex-positive Asexuelle fühlen kaum oder keine sexuelle Anziehung den Personen gegenüber, mit denen sie Sex haben, spüren aber ein sinnliches, physisches Verlangen danach, wie sich Sex und/oder der Orgasmus anfühlt.


Die Asexuellen Pride Flagge

Die Asexuellenflagge: Schwarz steht für Asexualität, Grau für Grey- und Demisexualität, Weiß für Sexualität und Violett für Gemeinschaft


Einige Menschen identifizieren sich als grey-sexuell. Das bedeutet, sie stehen im Spektrum zwischen sexuell und asexuell, sie verspüren ein gewisses Maß an sexueller Anziehung, haben aber einen relativ niedrigen Sexualtrieb. In anderen Worten können sie manchmal sexuelles Anziehung fühlen, haben aber nicht zwingend ein Bedürfnis, dieser mit anderen Personen nachzugehen. Die Identifizierung als grey-sexuell kann also für einige Personen Sex beinhalten, allerdings nur unter spezifisch von ihnen bestimmten Umständen. Grey-sexuelle Personen haben also nicht zwingend weniger Libido als pan-, homo-, bi- oder heterosexuelle Menschen. Ob Personen ihre Grey-Sexualität als Unterkategorie der Asexualität oder einer anderen sexuellen Orientierung sehen, definieren sie für sich selbst.

Spektrum sexueller Orientierung graphisch dargestellt

Das Spektrum sexueller Anziehung ist breit


Eine weitere Orientierungskategorie, die sich am asexuellen Spektrum befindet, ist die Demisexualität. Personen, die demisexuell sind, fühlen sich sexuell nur zu jenen Personen hingezogen, zu denen sie sich auch romantisch hingezogen fühlen oder zu denen sie eine starke zwischenmenschliche Bindung haben. Die Unabhängigkeit und Unterscheidbarkeit jeder Anziehungsform von einer anderen ist zentral: Eine Person kann asexuell und heteroromantisch sein, gleichzeitig kann eine Person auch bisexuell und aromantisch – also keine romantische Anziehung anderen Menschen gegenüber verspürend – sein. Wie die Sexualität kann auch die romantische Orientierung eines Menschen als Spektrum dargestellt werden.


Auch Silje hat ihre Romantik parallel zu ihrer Sexualität hinterfragt. Bevor sie erkannt hat, dass sie asexuell ist, hat sie sich gefragt, ob sie nicht homo- oder bisexuell sein könnte. Auch nachdem sie zu der sexuellen Orientierung gefunden hat, die zu ihr passt, macht sie sich Gedanken darüber, ob sie nicht homo-, bi- oder aromantisch ist. Ganz sicher ist Silje sich heute nicht. Was sie aber weiß ist, dass sie noch nie in ihrem Leben verliebt war. Für sie sind Aromantik und Asexualität gleichzeitig verschmolzen und unabhängig von einander.

Liebe ohne sexuelle Anziehung


In einer romantischen Beziehung war Silje noch nicht. Sie ist sich aber auch nicht sicher, ob sie das überhaupt möchte. Für sie sei es schwer, zu wissen, ob sie eine Person romantisch oder freundschaftlich liebe, sagt sie. So ist sie sich manchmal nicht sicher, ob sie sich eine*n Partner*in wünscht oder lieber einfach eine*n Mitbewohner*in hätte. Zu Beginn ihres Prozesses der sexuellen Selbstfindung war sie besorgt, wie es potentielle Beziehungen beeinflussen werde, würde sie sich tatsächlich als asexuell identifizieren und auch in Zukunft nie Sex wollen wird. An manchen Tagen hat sie diese Angst immer noch.

Schon bevor sie sich ihrer sexuellen Orientierung sicher war, hat Silje Geschichten von asexuellen Personen gekannt, die in funktionierenden Beziehungen mit Personen leben, die sexuelle Anziehung verspüren. Früher war das aber für sie nur schwer vorstellbar. Der Gedanke, sie könne nur dann eine Beziehung führen, wenn sie auch Sex haben würde, setzte sie unter Druck. Sie erzählt: “Ich musste quasi aus dieser Vorstellung rausbrechen, dass das Leben so abläuft, dass ich irgendwann heiraten und Kinder kriegen werde.“ Heute ist Silje mit dem Gedanken zufrieden, eventuell einmal mit ihrer*ihrem Partner*in gemeinsam in einer Wohnung zu leben – sollte Silje irgendwann überhaupt eine Beziehung eingehen wollen.


"Ich musste herausfinden, ob ich etwas nicht fühle, das viele andere Menschen fühlen

Viele asexuelle Personen führen Beziehungen, die Sex beinhalten. Das kann einerseits daran liegen, dass sie wegen bestimmter Umstände oder eben wegen ihrer romantischen Anziehung gegenüber ihren Sexpartner*innen sexuelle Anziehung verspüren, andererseits haben Personen auch aus Liebe Sex, der allen Beteiligten, inklusive der asexueller Personen, gefällt, auch wenn sie dabei keine sexuelle Anziehung fühlen. Schließlich sind nicht alle asexuellen Personen Sex von Grund auf abgeneigt. Die jeweilige Definition von Sex, beziehungsweise welche sexuellen Handlungen darin eingebunden sind, variiert von Paar zu Paar. Auch Körperkontakt ist kein Muss, um Sex zu haben. Unabhängig von der sexuellen Orientierung gilt: Sex ist das, was alle Beteiligten als Sex empfinden.


Silhouetten zweier Menschen, die sich nachts näher kommen

Asexualität schließt nicht automatisch eine romantische Beziehung aus © Pixabay


Silje kann sich nicht vorstellen, in Zukunft das Bedürfnis nach sexuellen Handlungen jeglicher Art zu haben. Platonisch umarmt und kuschelt sie gerne mit ihren Freund*innen. Nur, weil sie keine sexuelle Anziehung verspürt, heißt das nicht, dass sie weniger Wert auf körperliche Nähe legt. Ihre Freundschaften sind Sinje äußerst wichtig. In ihrem Freundeskreis gibt es mehrere asexuelle Personen, mit denen sie auch über ihre Sexualität scherzen und sich austauschen kann. “Wir sagen dann, wir treffen uns jetzt sicher nur, um miteinander zu schlafen“, erzählt sie. Von ihren Freund*innen weiß Silje auch, wie romantische Beziehungen zwischen asexuellen Menschen und Personen mit sexuellem Verlangen aussehen können. Sie kann von ignoranten, aber auch von verständnisvollen Partnern ihrer Freund*innen berichten.

Erwartungen einer sexualisierten Gesellschaft


Viele asexuelle Menschen sind mit denselben oder ähnlichen Vorurteilen konfrontiert wie Siljes Freundin: Ihnen wird nicht geglaubt, ihre Asexualität wird ihnen abgesprochen. Die Mehrheitsgesellschaft betrachtet Heterosexualität als Norm, andere sexuelle Orientierungen werden zum Teil pathologisiert. Das bedeutet, sie werden als krankhaft dargestellt oder es wird versucht, eine Störung als Ursache zu identifizieren. Der sexuellen Orientierung wird also eine psychisch oder physiologisch kranke Komponente zugeschrieben, die sie nicht hat.


Pathologisierung von marginalisierten Gruppen ist aus mehreren Gründen gefährlich. Sie suggeriert, es würde etwas mit Personen nicht stimmen, beziehungsweise, es könne eine Ursache für nicht-normatives Verhalten oder Empfinden gefunden werden, mit dem Ziel, diese „beheben“ zu können. Dieses Phänomen ist nicht neu: So wurden historisch vor allem Frauen*, die sich nicht an die gesellschaftlichen Normen hielten, als „hysterisch“ bezeichnet und gewaltvoll in psychiatrische Kliniken eingewiesen. Auch die Nazis pathologisierten Menschengruppen in ihrer Ideologie, um ihre Grausamkeiten zu begründen. Außerdem stufte die Weltgesundheitsorganisation noch bis 2019 Trans*-Identität als Persönlichkeits- und Verhaltensstörung ein.



Ein Stethoskop auf einem bedruckten Stück Papier

Fälschlicherweise wir Asexualität teilweise immer noch eine krankhafte Komponente zugeschrieben © Pixabay


In einer Gesellschaft, in der sexuelles Verlangen als Norm angesehen wird, müssen viele asexuelle Personen hören, es sei etwas verkehrt mit ihnen, weil sie kein Bedürfnis nach Sex haben. Ihnen wird beispielsweise unterstellt, sie hätten eine Hormonstörung, die sie davon abhalten würde, sexuelle Anziehung zu spüren, oder hätten ein Trauma erlebt, das sich in einer Ablehnung gegenüber Sex äußern würde. “Ich habe kein Trauma und ich bin trotzdem asexuell“, sagt Silje. Auch Unterstellungen, sie würde sich nur als asexuell identifizieren, um Aufmerksamkeit zu bekommen, hat Silje schon gehört. Tatsächlich beschreibt sich Silje aber als eher introvertierten Menschen – im Mittelpunkt zu stehen ist ihr eigentlich unangenehm.

Als Grund, warum unsere Gesellschaft Asexualität fälschlicherweise als etwas Ungewöhnliches betrachtet, sieht Silje, dass Sex allgegenwärtig ist. Medien und Werbung drehen sich oft um Sex, auch wenn er nichts zur Handlung oder zum eigentlichen Produkt beiträgt. So werden Menschen schon früh mit der vermeintlichen Unverzichtbarkeit von Sex im eigenen Leben konfrontiert. Während der Pubertät, in der viele Menschen ihre ersten sexuellen Erfahrungen machen, lernen viele Jugendliche auch, Sex mit einem gewissen Prestige zu verbinden: Wer Sex hat gilt als cool, wer keinen Sex hat gilt als weniger begehrenswert. An Gespräche solcher Art erinnert sich Silje auch aus ihrer Schulzeit. Dass Sex zu haben nichts mit dem Wert oder gar der Liebenswürdgkeit eines Menschen zu tun hat, muss im Nachhinein wieder erkannt werden.

Fehlende Aufklärung und Repräsentation


Asexualität ist eine Orientierung, die von der Mehrheitsgesellschaft nicht umfassend wahrgenommen wird. Auch Silje musste schon die Erfahrung machen, dass Menschen sie und ihre Asexualität nicht verstehen. Sie erzählt: „Ich bin schon auf sehr viel Ignoranz gestoßen, weil Leute keine Ahnung haben, was es bedeutet, asexuell zu sein“. Sie hätte sich gewünscht, schon im Aufklärungsunterricht in der Schule gehört zu haben, dass sie sich auch als etwas anderes als homo-, bi- oder heterosexuell identifizieren kann. Stattdessen wurde den Schüler*innen in Siljes Klasse beigebracht, dass Sex ein fixer Bestandteil ihrer Zukunft sein würde und in der Natur des Menschen liegen würde.


Eine Biene fliegt auf eine Blüte zu

Silje hätte gerne schon im Aufklärungsunterricht von Asexualität erfahren © Pixabay


Repräsentation von asexuellen Personen in den Medien trägt zur Aufklärung und tieferem Verständnis in der breiten Gesellschaft bei. Silje selbst ist zuerst in einem Buch über den Begriff Asexualität gestoßen. Dann musste sie erst weiter recherchieren, bevor sie sich sicher war, dass sie asexuell ist. Am meisten habe sie über ihre sexuelle Orientierung dadurch gelernt, dass sie Accounts auf Instagram folgte, die von asexuellen Menschen betrieben werden oder sich mit Asexualität befassen. Über herkömmliche Suchmaschinen oder Recherchen in Lexika führten Silje aber selten weit, mehr Antworten fand sie in diversen Foren.


Heute fühlt sich Silje gefestigter in ihrer sexuellen Identität. Menschen wie sie selbst in Serien und Filmen zu sehen, ist ihr nach wie vor ein wichtiges Anliegen. „Erst letztens habe ich eine Serie geschaut, in der sich ein Charakter als asexuell geoutet hat und ich habe mich so gefreut“, erzählt sie. Mediale Darstellungen von Personen, die nicht heterosexuell sind, sensibilisieren die breite Öffentlichkeit und geben ein realitätsnahes Bild unserer pluralistischen Gesellschaft wieder. Doch auch auf der individuellen Ebene spielt Repräsentation eine durchaus prägende Rolle: Sie ermutigt Personen, die Aspekte ihrer Identität sowie ihre sexuelle Orientierung zu hinterfragen, indem diese Menschen zu sehen bekommen, die sind wie sie selbst und ein erfülltes Leben führen.


Das ganze Gespräch mit Silje kannst du im amRand-Podcast anhören:


 

Weiterführende Informationen zu Asexualität findest du hier:

 

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